War Freud ein guter Schüler? 

 

Die Antwort seiner Lehrer und Biografen auf diese Frage ist eindeutig: Freud war nicht nur ein guter Schüler, er war immer ein sehr guter Schüler. „Auf dem Gymnasium war ich durch sieben Jahre Primus, hatte eine bevorzugte Stellung, wurde kaum je geprüft“ 
 (aus: Sigmund Freud, Selbstdarstellung, 1925).

 

Was wäre, so könnte man fragen, aus der Psychoanalyse geworden, wenn Freud die Schule nicht als „Primus“ absolviert hätte? Wenn er in Konflikten und Krisen sich mit den Schattenseiten der Schule hätte intensiver auseinandersetzen müssen? Möglicherweise nicht eine Psychoanalyse als „Heilkunst“ sondern eine neue, eine psychoanalytische „Pädagogik“? 

 

Was für ein Gedanke, wenn der, der das „Unbehagen in der Kultur“ so einfühlsam analysierte, sich ebenso eindringlich und verständnisvoll mit dem „Unbehagen in der Schule“ befasst hätte? Doch das Thema „Pädagogik“ faszinierte Freud auch in späteren Jahren immer wieder. 

 

In einem Aufsatz, der in einer Festschrift zum 50jährigen Bestehen seiner früheren Schule veröffentlicht wurde, sind die vermutlich wichtigsten Sätze zu seinem Verständnis von einer psychoanalytischen Pädagogik der Schule und zur Lehrer-Schüler-Beziehung überliefert: 

 

„Wir warben um sie oder wandten uns von ihnen ab, imaginierten bei ihnen Sympathien oder Antipathien, die wahrscheinlich nicht bestanden, studierten ihre Charaktere und bildeten oder verbildeten an ihnen unsere eigenen. Sie riefen unsere stärksten Auflehnungen hervor und zwangen uns zur vollständigen Unterwerfung; wir spähten nach ihren kleinen Schwächen und waren stolz auf ihre großen Vorzüge, ihr Wissen und ihre Gerechtigkeit. Im Grunde liebten wir sie sehr, wenn sie uns irgendeine Begründung dazu gaben; ich weiß nicht, ob alle unsere Lehrer dies bemerkt haben. Aber es ist nicht zu leugnen, wir waren in einer ganz besonderen Weise gegen sie eingestellt, in einer Weise, die ihre Unbequemlichkeiten für die Betroffenen haben mochte. Wir waren von vornherein gleich geneigt zur Liebe wie zum Hass, zur Kritik wie zur Verehrung gegen sie. Die Psychoanalyse nennt eine solche Bereitschaft zu gegensätzlichem Verhalten eine ambivalente; sie ist auch nicht verlegen, die Quelle einer solchen Gefühlsambivalenz nachzuweisen.“ 

 

Auch seine Einsichten in die Dynamik von Übertragungsprozessen erläutert Freud in diesem Aufsatz bereits und macht deutlich, welche Aspekte der psychoanalytischen Konzeption auch der Pädagogik Orientierung geben könnten:
 

„Wir übertrugen auf sie den Respekt und die Erwartungen von dem allwissenden Vater unserer Kindheitsjahre, und dann begannen wir, sie zu behandeln wie unsere Väter zu Hause. Wir brachten ihnen die Ambivalenz entgegen, die wir in der Familie erworben hatten, und mit Hilfe dieser Einstellung rangen wir mit ihnen, wie wir mit unseren leiblichen Vätern zu ringen gewohnt waren. Ohne Rücksicht auf die Kinderstube und das Familienhaus wäre unser Benehmen gegen unsere Lehrer nicht zu verstehen, aber auch nicht zu entschuldigen.“ 

 (aus: Sigmund Freud, Zur Psychologie des Gymnasiasten, 1914)